Neues Recruiting: Wie viel Mensch, wie viel automatisierte Prozesse sind nötig?

Mourad Bihman ist Sparringspartner für digitales Recruiting und digitale Strategieentwicklung und sieht die große Chance der Digitalisierung darin, dass sie Unternehmern und Angestellten die freie Zeit gibt, die sie brauchen, um ihr Potenzial entfalten zu können. Strategisch umgesetzt, können digitale Prozesse den Menschen von zeitraubenden administrativen Prozessen befreien und mehr Zeit für Wesentliches schaffen. Human-Digital eben.

Es ist genau so viel Automatisierung nötig, wie sinnvoll ist, damit der Mensch die Arbeit tun kann, die er gut und gerne macht. Recruiting-Prozesse bilden in erster Linie Beziehungen und deren Pflege ab. In einer idealen Welt würde die gesamte Kommunikation individuell ablaufen. In Ermangelung von Kapazitäten kommunizieren viele Unternehmen aber gar nicht mit den Bewerbern. Hier kann z. B. eine teilautomatisierte und trotzdem wertschätzende Kommunikation die Lücke schließen.

 

Als Arbeitgeber sichtbar zu werden, ist ein anderes Feld. Kleine und mittelständische Unternehmen finden oft keine Mitarbeiter, weil sie keiner kennt - nicht weil die anderen attraktiver sind. Wer allerdings in reiner Handarbeit für mehr Reichweite und Sichtbarkeit sorgen will, wird dafür sehr viel Arbeitskraft einsetzen müssen. Hier kann die Automatisierung von klar definierten Prozessen sehr viel Zeit sparen. Ein Unternehmen sucht ja Mitarbeiter, weil es zu wenig Manpower hat. Wenn jetzt der Bewerbungsprozess zusätzlich massiv Arbeitskraft verschlingt, ist niemandem geholfen.

Gleichzeitig bedeutet die Einstellung unpassender Mitarbeiter noch mehr Arbeitsaufwand und natürlich Kosten. Um dieses Dilemma zu lösen, sind automatisierte, schlanke Prozesse sinnvoll. Sie sparen Zeit und ermöglichen es, unter mehr Bewerbern die passenden herauszufiltern.
Immer mehr Firmen automatisieren ihren Recruiting-Prozess und setzen Apps mit künstlicher Intelligenz ein.

 

Sind neue Technologien unsere zukünftigen Personalentscheider?

 

Ich rate gerade bei Mittelständlern von künstlicher Intelligenz (KI) ab. Menschen arbeiten mit Menschen. Und menschliche Faktoren sind für eine gute und fruchtbare Zusammenarbeit meist entscheidender als Qualifikationen. Genau diese kann aber eine KI nicht in Erfahrung bringen. Gerade in kleineren Unternehmen sollte die Chemie unter den Mitarbeitern stimmen. Sie entscheidet über das gelebte Potenzial des Unternehmens. Qualifikationen allein sind keine verlässliche Größe. Hilfreich hingegen sind klar definierte Bewerbungsprozesse, die es ermöglichen, auch viele Bewerbungen zu prüfen und abzuarbeiten, wertschätzend mit den Bewerbern zu kommunizieren und gute Entscheidungen zu treffen, die alle nötigen Abteilungen mit einbeziehen. Hier liegt die Stärke digitalisierter Prozesse. Sie geben den Menschen die Möglichkeit, mehr Zeit „am Bewerber“ zu verbringen und so zu einer besseren Einschätzung zu kommen.

 

Idealerweise läuft ein Bewerbungsprozess so gut ab, dass die qualifizierten Bewerber, die nicht genommen werden, trotzdem in Kontakt mit dem Unternehmen bleiben wollen. Dann fängt man nämlich nicht bei jeder Stellenausschreibung wieder von Null an.

 

Worin sehen Sie die Chancen von automatisierten Prozessen in der Personalauswahl? Wo sind deren Grenzen?

 

Die Chance ist ganz klar, auch für kleinere Unternehmen, in einem großen Radius zielgenau nach passenden Mitarbeitern suchen zu können. Die meisten Mittelständler sind als Arbeitgeber unsichtbar, weil sie auf den neuen Arbeitsmarktplätzen nicht präsent sind. Das ist der Hauptgrund für den gefühlten Fachkräftemangel.

 

Eine weitere Chance liegt darin, mehr qualifizierte Bewerber besser prüfen zu können, weil der administrative Teil des Bewerbungsprozesses automatisiert ist und keiner zusätzlichen Aufmerksamkeit mehr bedarf. So haben die Personaler mehr Zeit, die Kandidaten wirklich eingehend zu prüfen. Auch die Kommunikation lässt sich deutlich verbessern: Jeder Bewerber kann zum Markenbotschafter werden, wenn er entsprechend in den Bewerbungsprozess eingebunden wird. Das ist - zeitlich sinnvoll - nur mit automatisierter und personalisierter Kommunikation machbar.

Was automatisierte Prozesse nicht leisten können, ist die Auswahl an sich. Diese muss "von Hand" erfolgen. Niemand kann Menschen so gut wahrnehmen, wie andere Menschen und individuell entscheiden. Algorithmen bergen immer das Risiko, wirklich gute Bewerber auszusieben, weil sie nicht ins Schema passen.

 

Unter welchen Gesichtspunkten sind persönliche Gespräche durch nichts zu ersetzen?

 

Persönliche Gespräche sind grundsätzlich durch nichts zu ersetzen. Nur ca. sieben Prozent unserer Wahrnehmung gilt dem verbalen Ausdruck, der Rest gilt Körpersprache und anderen Wahrnehmungen, die sich nur in einem persönlichen Gespräch beurteilen lassen.

Videocalls sind sicherlich besser als Telefonate und eine gute Option für eine Vorauswahl, geben aber auch nicht die gesamte Bandbreite menschlicher Kommunikation wieder.

 

Worauf sollten Personalentscheider besonders achten, um in Zukunft mit den wirklich passenden Menschen zusammenzuarbeiten?

 

Softskills, Softskills und Softskills, oder wie die Amerikaner sagen: „Hire for attitude, train for skills“. Die Produktivität und Leistungsfähigkeit eines Teams oder einzelner Mitarbeiter hängt viel mehr von menschlichen Faktoren ab, als von Qualifikationen. Wer sich in seiner Umgebung nicht wohlfühlt, bleibt immer unter seinen Möglichkeiten.

Wenn unausgesprochene Konflikte in Teams gären, werden sie nicht ihre Leistungsfähigkeit auf die Straße bringen können und mit angezogener Handbremse fahren. Dass über 60 Prozent der Angestellten nur 'Dienst nach Vorschrift' machen, liegt zum großen Teil daran, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz nicht passen. Wer sich an seinem Arbeitsplatz wohl fühlt, der leistet mehr und geht mit seinem Arbeitgeber auch durch schwere Zeiten.

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