Wo Führungsleitlinien enden und ethisches Handeln beginnt

Auf die Maxime ‚Loyale Führung und Zusammenarbeit‘ wurde ich schon häufig angesprochen und gefragt, was genau dahinter steht, wie loyale Leitwerte in Stein gemeißelt und Menschen zu einem werteorientierten Handeln angeleitet werden können. Auf sehr viele Fragen gebe ich in meinen Büchern Antwort: Royal führen, loyal handeln behandelt Unternehmensstrukturen und personalpolitische Grundaspekte, die für eine loyale Wertekultur angepackt werden können. In Besser führen erhalten Führungskräfte Überblick über den Zusammenhang von Haltung und Verhalten sowie Grundlagen für den Aufbau Vertrauen und Loyalität in Mitarbeiterbeziehungen und Teams. Für und mit einigen Firmen darf ich Leitbilder entwickeln und Werte-Workshops durchführen und einige Führungskräfte supervidieren mit mir ihre Führungsstrategien und Mitarbeiterkommunikation. Kommunikation studiere und betreibe ich letztlich mein Leben lang. Zahlreiche Tatsachen und Botschaften lassen sich in Worte kleiden, noch klarer ausformulieren, in Regeln und Gesetze gießen. Und gleichzeitig gibt es so Vieles, das in Worten nicht auszudrücken ist. Etwas, das eine Einstellung und Haltung widerspiegelt, das sich nicht durch Sagen, sondern nur durch Taten zeigen lässt.

 

Während meiner Trainerausbildung in diesem Jahr ist mir das besonders aufgefallen. Als Trainerin geht es für mich nicht nur darum, Inhalt zu vermitteln – sollte jeder Mensch entsprechend seiner Kompetenzen tun. Es geht darum, Menschen in kurzer Zeit zu einem Team zu formen bzw. mindestens die Atmosphäre zu schaffen, miteinander zu wirken und weiter zu kommen. Den Raum zu halten, Ebenbürtigkeit entlang eines Themas und Mitmenschlichkeit zu erschaffen. Diese Fähigkeiten müssen von der moderierenden, der führenden, der trainierenden Person ausgehen und in Einklang stehen. Priorität sollte die Weiterentwicklung haben – noch vor der Wissensvermittlung. Das bedeutet, die Wahrnehmung des Einzelnen mittels der Energie zu fördern und zu fordern, die die anleitende Person in die Gruppe hinein gibt. Und plötzlich wird so vieles bewusst, das in der Regel automatisch, instinktiv, intuitiv abläuft – und jenseits von Worten.

 

 „Was wir nicht sagen können, können wir nicht denken, und was wir nicht denken können, darüber müssen wir schweigen.“

(Ludwig Wittgenstein)

 

Wenn wir philosophieren, bewegen wir uns außerhalb der Logik, jenseits der Grenze der Sprache. Ethik ist keine Wissenschaft, sondern eine Tätigkeit und eine Wirkung, die Erkundung dessen, was das Leben lebenswert macht. Ethisches Handeln im Sinne der steten Arbeit an sich selbst entspringt dem menschlichen Trieb, dem eigenen In-der-Welt-Sein einen Sinn zu geben. Wir sollten beim ethischen Handeln nicht in „gut“ oder „falsch“ richten und nach „richtig“ oder „falsch“ bewerten, sondern lieber etwas „Gutes“ tun. Oder, was denken Sie?
Und da es keine höhere Instanz gibt, die uns diesbezüglich Orientierung geben könnte, müssen wir aus unserem eigenen „Ich“, unserem ethischen Willen heraus selbst eine Antwort auf die Frage finden, wann etwas für uns das „Richtige“ ist. Diese Antwort kann nicht aus Worten, sondern situativ bedingt aus Taten bestehen. 

 

Aus diesem Grund muss aus meiner Sicht jede Form von Verhaltenskodex und Unternehmensphilosophie auf zwei Säulen getragen werden: der schriftlichen Fixierung von Leitwerten zur Orientierung, für das gemeinsame Verständnis einer Leitkultur UND dem eigenverantwortlichen Handeln nach bestem Wissen und Gewissen. 

 

Ethische Verantwortung bedeutet oft handeln, bevor man versteht.

 

Während die Wissenschaft vorliegende Tatsachen aufgreift und einordnet, schaut sie immer zurück. Unser Tun – auch das unternehmerische Vorgehen, die Art unserer Führung und das eigenverantwortliche Erledigen unserer Aufgaben – ist jedoch immer zukunftsgerichtet. Wir müssen erst entscheiden, was wir tun, es dann tun und danach sehen wir die Wirkung, anhand der wir erst beurteilen können. Das heißt, entweder betreiben wir Wissenschaft – oder wir versuchen, ethisch zu handeln. Und zwar, indem wir stets, in jeder Rolle und Funktion, die wir im Leben annehmen, Verantwortung für unser Tun übernehmen, Mut zu konkreten Entscheidungen beweisen und uns bemühen, unserem Leben einen Sinn zu geben. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn wir unsere Gedanken (Philosophie) und Handlungen (Leben) in jeder Situation einer ethischen Prüfung unterziehen, unsere eigene Perspektive immer wieder hinterfragen und größtmögliche Offenheit für die Sichtweise anderer bewahren.

 

Und oft, ist meine Feststellung, kommt es im Leben nicht nur auf das Wissen an, zum Beispiel um der Leitprinzipien und Führungsgrundsätze eines Unternehmens, sondern vor allem auf die Art und Weise, wie wir mit diesem Wissen umgehen. 
Anders als in der Sprache, vielmehr noch ist das Leben voller Verwirrungen, die sich niemals vollends auflösen lassen. Wir können (meist im Nachgang) für alles die richtigen Worte finden, aber nicht anhand der Worte das richtige Handeln ableiten. Denn jede Situation ist weit komplexer, eingebunden in Systeme und Kontext. Wenn wir also herausfinden wollen, welches die rechte Art zu arbeiten, zu führen und zu leben ist, müssen wir uns trauen, vom rationalen Verstehen-Wollen abzuweichen, auch mal gegen die Grenze der Sprache anzustürmen, oder sich sogar von der Sprache zu befreien. Nur dann haben wir eine Chance, nicht nur gute Denker, sondern auch gute Menschen zu sein. Und Sinn zu empfinden.
Wenn ethisches Handeln also nicht in ein theoretisches System eingeordnet werden kann, wird der Wunsch nach Verstehen-Wollen außer Kraft gesetzt. Die Orientierung an sicheren Erkenntnissen fällt weg, weil sie immer nur für einen Fall gilt. 

 

Menschlichkeit heißt Verantwortlichkeit

 

In der Teamentwicklung und in der Maßgabe interner Anstandsregeln benötigen wir also immer ein Mindestmaß an Vorbehaltlosigkeit und eine gewisse Gleichartigkeit gegenüber den anderen Personen. Dies macht sich in der Haltung des Menschen bemerkbar. Und die Haltung der Führungskraft wirkt sich weit stärker auf die Haltung der Gruppe aus als die Haltung aller anderen Personen (es sei denn, jemand erfährt den inoffiziellen Ruf der Leitfigur, auch ohne offizielle Betitelung; dann wird sich die Resonanz auf dessen Haltung ebenfalls stärker widerspiegeln). Es geht in der Personalentwicklung also nicht darum, zu bewirken, auf den Appell der Leitlinien wie auf einen Befehl hin zu agieren. Loyale Zusammenarbeit, loyales Handeln muss vielmehr jedem Ruf, jeder Aufforderung vorausgehen. Es ist die Haltung einer freiwilligen Verpflichtung. Nur wenn wir stets bereit sind, dem anderen zu antworten, ihn zu leiten, zu begleiten oder zu unterstützen – und zwar unabhängig davon, ob uns das etwas bringt, ob wir etwas zurückbekommen –, erweisen wir uns als menschlich. Dass Menschlichkeit als Unternehmensleitwert nicht logisch und für alle Situationen erklärt, sondern nur durch Analogien und Metaphern dargestellt werden kann, kommt einer Kampfansage an unseren Verstand, unserem Bedürfnis nach Ordnung und Orientierung gleich. Aber Worte haben keinen Wert an sich – dass musste ich über Jahrzehnte lernen –, sie sind Auslegungssache. Einen Wert hat immer nur unser unbedingtes ethisches, menschliches und loyales Handeln. Dann werden wir der Menschlichkeit gerecht, die ich mit dem Ansatz der loyalen Führung und Zusammenarbeit anstrebe und verfolge.

 

Bemühen wir uns also, unseren Mitarbeitern, Mitmenschen, Geschäfts- und Lebenspartnern mitmenschlich und loyal zu begegnen. Versuchen wir, ihr Anderssein als Inspiration zu betrachten und gehen wir offen auf sie zu. Fangen wir an, in ihrer Gegenwart unsere loyalen Fähigkeiten (neu) zu entdecken. Nehmen wir in Kauf, dass wir für vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen und Verständnis füreinander keine Abkürzungen gibt, sondern unsere Wege miteinander verschlungen sind und auch darin eine Bereicherung besteht. Kein Buch über loyale Führung und Zusammenarbeit, kein Wikipedia-Eintrag, kein Navigationssystem der Welt kann Ihnen sagen, worauf es in ihren Teambeziehungen ankommt. Sie können es nur selbst herausfinden – zum Beispiel in Form eines längst überfälligen Team-Tages mit einer Trainerin, die sich der Erkundung einer loyalen Führungskultur verschrieben hat – in der durch nichts zu belegenden Gewissheit, dass es sich in jedem Fall lohnt, menschlich und loyal zu sein.

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