Jung, flexibel, ohne Menschenkenntnis – so möchte ich meine Beobachtung mancher Nachwuchsführungskräfte beschreiben. Beim Generationenwechsel kommt es in vielen Unternehmen zu personellen Veränderungen, die einen radikalen Wandel im Führungsstil mit sich bringen. Einerseits ist dringend notwendig, die Wirtschaftswelt auch aus den Augen der Jugend zu betrachten und das gekonnte Zusammenspiel zwischen jungen Führungskräften und alten Hasen birgt unendlich viel Potenzial. Leider werde ich allerdings auch Zeugin vom Gegenteil. Wenn sich Alt und Jung nicht viel zu sagen haben, wenn der Verantwortungsübergang übereilt vorgenommen wird oder die Neuen sogar erst nach einer Versorgungslücke in der Führung antreten, ist auf kultureller Ebene in der Firma oft schon das Kind in den Brunnen gefallen. Logisch, dass unerfahrenere Führungskräfte mit solch einer Situation überfordert sind.
In einer Welt, in der Kommunikation immer schneller abläuft, ist es von unschätzbarem Wert, die eigene Kommunikation zu optimieren, um überzeugender zu argumentieren, um die Motivation anderer besser einzuschätzen und die subtilen Verhaltensweisen zu verstehen, die im Hintergrund der alltäglichen Interaktionen ablaufen. Kurz, die Menschenkenntnis spielt eine entscheidende Rolle und sollte nie zu kurz kommen. Haben wir viel mit anderen Menschen zu tun, sammeln wir Erfahrung, die wir für uns auswerten und daraus lernen können. Eine gute Menschenkenntnis hängt von drei Faktoren ab: Lebenserfahrung (möglichst unterschiedliche Menschen, Lebensräume, Lebensmodelle), eine gewisse Intelligenz, um aus Fehleinschätzungen zu lernen, und Intuition, also auf das Bauchgefühl zu hören, das uns meist ziemlich eindeutige Signale sendet.
Obwohl wachsende Menschenkenntnis nicht zwangsläufig mit dem Älterwerden einhergeht, habe ich persönlich die Erfahrung gemacht, dass es sehr wertvoll ist, sich selbst erstmal genau kennenzulernen, die eigenen Triebfedern zu erkennen und zu hinterfragen. Am besten sogar, bevor man sich ein Urteil über andere erlaubt. So ideell wie utopisch, ich weiß. Weil neben meiner Beobachtung leider auch zahlreiche Studien belegen, dass uns beim Einschätzen anderer diverse Fehler unterlaufen, möchte ich mich heute mit den typischen Stolpersteinen der Menschenkenntnis befassen und Ihnen einige, altersunabhängige Hinweise geben, wie Sie diese umschiffen können.
1. Eigenschaften genauer hinterfragen
Hilfsbereitschaft ist eine sympathische und angesehene Eigenschaft. Meistens unterstellen wir dann unbewusst direkt Uneigennützigkeit und Altruismus. Doch Achtung: Sammelt jemand aus ganz anderen gründen Sympathiepunkte auf diese Weise, unterläuft uns schnell und unbemerkt ein Fehlschluss. Sozialpsychologen sprechen vom Halo-Effekt.
2. Widersprüche zulassen
Beamte leisten Dienst nach Vorschrift, Brillenträger sind intellektuell und Blondinen steht ihre Naivität im Weg. Unser Gehirn vereinfacht unsere Wahrnehmung und steckt Menschen schnell in Schubladen. Insbesondere, wenn wir jemandem schon mit bestimmten Erwartungen begegnen, lässt sich unser Unterbewusstsein schnell auf bestätigende Hinweise lenken. Gleichzeitig verpassen wir Wesentliches, auf das wir nicht achten. Vorurteile stören unsere Menschenkenntnis und unser Miteinander. Indem wir uns öfter auf Widersprüche – in unserem eigenen Verhalten und im Verhalten anderer – fokussieren und sie erlauben (beispielsweise gleichzeitig veränderungsbereit sind UND bestimmte Punkte als nicht verhandelbar gelten), bereichern wir unser Wissen und unser Leben.
3. Erinnerungen überprüfen
Unser Gedächtnis halten wir oft für genauso unfehlbar wie unsere Menschenkenntnis. Leider ist das aber nicht so, denn im Rückblick werden unsere Erinnerungen oft unbewusst umgeformt (verallgemeinert, verzerrt, getilgt), um unser Ego zu schützen. Das bedeutet, obwohl vieles, das uns in Bezug auf eine Person einfällt, in Wahrheit wenig mit ihr hier und heute zusammenhängt, führt allein das Gefühl, sich so gut an vieles erinnern zu können, zum Trugschluss und ebenso oft zum Urteil über eben diesen Menschen. Da hilft nur eines: Die eigene Wahrnehmung immer wieder zu hinterfragen.
4. Erfahrungsbrille abnehmen
Kennen Sie solche „branchenüblichen“ Werkzeuge? Eine Freundin ist Anwältin, sie spricht häufig in Fakten und Tatsachen und geht es um Meinungen, so formuliert sie Argumente. Eine andere Freundin ist Coach, sie spiegelt mich an manchen Tagen unentwegt und bietet mir andere Perspektiven zu meiner Betrachtung an. Meine Mutter ist Sozialpädagogin, sie meint oft zu wissen, was ich wie anpacken sollte. Diese Liste ließe sich fortsetzen und selbstverständlich bin ich auch nicht ganz frei davon. Natürlich können und wollen wir unsere Berufe nicht abschütteln, sie machen schließlich einen Teil unserer Identität aus. Je bewusster wir außerhalb unseres beruflichen Wirkungsfeldes die „Jobbrille“ abnehmen, desto offener und wohlwollender betrachten wir unser Gegenüber.
5. Hinterfragen Sie die Gründe
Eine neue Mitarbeiterin wächst nicht so recht ins Team hinein, eine dienstältere Kollegin scheint sie besonders unsympathisch zu finden und lässt kein gutes Haar an ihr. Hinterfragen Sie so frühzeitig wie möglich: Was löst diese Abneigung aus? Welche Charaktere stoßen da aufeinander? Worin bestehen die (mutmaßlich gegenseitigen) Trigger? Welche positiven Eigenschaften der Neuen haben den Anlass gegeben, sie ins Team zu holen? Wie können sie hervorgekitzelt werden, so dass alle davon profitieren? Genauso wie es eine rosarote Brille gibt, existiert auch eine graue Brille, die nur das Negative erkennen lässt.
6. Ziehen Sie keine Vergleiche
Leichter gesagt als getan, denn unsere Gesellschaft ist darauf ausgelegt, uns aneinander zu messen und zu bewerten. Doch so schafft man nur Verlierer und löst Unzulänglichkeitsgefühle aus. Jeder Vergleich fordert: „Sei so wie die anderen, nur besser!“ Die steigende Anzahl an Burnouts bestätigt es.
Jeder Mensch ist einzigartig und sollte auch als gleichwertig betrachtet werden. Anstelle allen dieselbe Leistungsmesslatte anzulegen, kann viel differenzierter herausgearbeitet werden, welche Stärken in der jeweiligen Persönlichkeit liegen und wie diese sinnvoll und zielführend eingebracht werden können.
7. Lassen Sie sich nicht blenden
Dale Carnegie lässt grüßen! Seitdem er mit seinem Buch „How to Win Friends & Influence People“ maßgeblich die Persönlichkeitskultur geprägt hat, haben echte Charakterzüge das Nachsehen. Seine Bewegung lehrt, dass jede Kommunikation eine überzeugende Inszenierung zu sein hat, kurz: verkaufen muss. 100 Jahre nach seinem Erstlingswerk stehen wir Tausenden von Blendern gegenüber, die uns besonders in der Wirtschaft und in der Politik das Leben schwer machen; nicht nur mit Status-Symbolen, sondern auch mit Oberflächlichkeit. Lassen Sie sich nicht vom Wesentlichen ablenken!
8. Beurteilen Sie auch das Umfeld
Der erste Eindruck ist zwar wichtig, aber gerade Introvertierte werden bei vorschnellen Schlüssen übergangen. Um den Charakter eines Menschen zu ergründen, sollten Sie auch das soziale Umfeld in Betracht ziehen. Wenn die systemischen Hintergründe bekannt sind, lassen sich viele Eigenschaften und Verhaltensweisen besser verstehen und nachvollziehen. Darauf können Sie dann gemeinsam mit der Hinzunahme eines neuen Handlungsrepertoires aufbauen.
Im Zweifelsfall hilft oft auch eine Zweitmeinung von jemandem, dem Sie eine gute Menschenkenntnis zutrauen. Deckt sich dessen Einschätzung immer wieder mit Ihrer eigenen, lernen Sie Ihrer Menschenkenntnis immer mehr zu vertrauen. Tägliches Training hilft, die Menschenkenntnis zu verbessern. Nutzen Sie deshalb jede Gelegenheit, um andere Menschen zu beobachten und zu analysieren. Mit der Übung kommt auch Ihr engerer Bezug zu Ihrer Intuition (zurück) und Sie lassen sich nicht mehr so leicht täuschen.
Wenn Sie den Menschen in Ihrem Unternehmen oder Bewerbern eine faire Chance geben und ihnen neutral gegenübertreten wollen, biete ich Ihnen gern einen zweiten Blick auf die Menschen und Situationen. So gewinnen Sie eine Zweitmeinung und können mit mehreren Perspektiven und Lösungsansätzen in die interne Entscheidungsfindung gehen.