Ich habe in letzter Zeit viel über Machtstrukturen gelesen – nicht nur aus gegebenem Anlass, sondern auch in Sachen Führung und Zusammenarbeit. In meiner täglichen Arbeit erlebe ich es immer wieder, dass schon allein das Wort Macht zu Irritationen führt und dass Macht in Zusammenhang mit Führung mit materiellen Interessen, Skrupellosigkeit, Herrschaft und Unterdrückung gleichgesetzt wird. Dummerweise geben uns einige Menschen immer wieder Beispiele dafür, dass Macht im Wesentlichen von Machtmissbrauch geprägt ist. Das muss es aber gar nicht! Ich bin davon überzeugt, dass erst jemand, der Macht besitzt, auch in der Lage sein wird, andere zu ermächtigen. Oder zu „empowern“, wie wir heute sagen.
Schauen wir uns erforderliche Führungsqualitäten für die Personalarbeit an, die so genannten Soft Skills, dann versteht man darunter häufig Zuhören können, Teamfähigkeit und Kooperationswille, Transparenz, Wertschätzung und Authentizität. Hingegen werden ebenso wichtige Führungseigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit, taktisches und strategisches Denken und Handeln den Ersteren vielfach untergeordnet, obwohl die eine Seite der Sozialkompetenz ohne die andere gar nicht erfolgreich sein kann. Es stimmt, nicht jede soziale Eigenschaft setzt auf absolute Harmonie und einvernehmliche Lösungen. Aber diese sind im Leben nun mal auch nicht immer möglich. Und trotzdem müssen und wollen wir weiterkommen.
Gerade bei Frauen im Beruf und schon Mädchen in der Schule oder im Studium reagieren schnell mit der Abwertung des Machtbegriffes. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, warum wir immer noch so schleppend den Aufbau von Frauen in Führungspositionen und im Unternehmertum verfolgen. Möglicherweise auch durch unsere Geschichte befeuert, erscheint es so, als ob irgendjemand irgendwann Denk- und Formulierverbote zu Macht aufgestellt hat. Doch wenn wir mehr Loyalität, mehr Miteinander und gesündere Arbeitskulturen entwickeln wollen, dann sind wir darauf angewiesen, uns auch mit dem Thema Macht auseinanderzusetzen. Der erste Schritt sollte sein, Macht nicht mehr als etwas Verwerfliches zu verstehen – und im Gegenzug dazu sollten Frauen sich, wenn sie sich vor Macht sträuben, nicht automatisch zum Gegenpol der Ohnmacht ziehen. Diese ist weder moralisch besser noch brächte sie irgendjemanden im Leben weiter.
Ich möchte an Sie appellieren, das ganz alltägliche, soziale Phänomen der Macht von einer anderen Seite zu betrachten, nämlich im Sinne eines legitimen, fördernden und beschützenden Machtgebrauchs. Denn: Nur wer Macht hat, kann auch andere daran teilhaben lassen; und wer sie nicht besitzt, kann sie an niemanden weitergeben. Das heißt, erst der Besitz von Power (=Macht) ermöglicht das Empowerment anderer, das wir gerade in der Führung so dringend brauchen. Damit wird der Gebrauch von Macht zu einem emanzipatorischen Akt, der in die Lage versetzt, überhaupt etwas „machen“, Struktur geben zu können. Folglich sagt die Eigenschaft von Macht auch noch nichts über ihren Charakter aus. Es kommt immer darauf an, wie sie angewandt wird und in welcher Absicht.
Was ist das Fazit daraus?
Macht wird erst dann zu einem Problem, wenn es keine Überprüfungs- und Kontrollinstanz gibt. Das kann die eigene regelmäßige Selbstreflexion sein, institutionalisierte Untersuchungen im Rahmen der Firmenorganisation oder das turnusmäßige Feedback durch Externe wie mich.
Menschen, und vielleicht auch gerade Frauen, die sich nur deshalb von einer Machtposition fernhalten, weil ihnen das moralisch gesehen minderwertig erscheint, sollten und dürfen sich aus meiner Sicht nicht darüber beklagen, wenn sich jemand dieser Rolle ermächtigt, der möglicherweise geringere Standards hat als sie selbst. Also, ran an die Macht! Mit der guten Absicht, weitere Menschen zu ermächtigen.